Schildkröten und der Sinn des Lebens

4. September 2022

Starten wir mein Schreibprojekt doch mit einer kleinen Denksportaufgabe: Der Frage nach dem Sinn des Lebens. Diese Frage hat mir schon häufiger Spaß bereitet, weil sie ein Happy Ending hat, wenn auch eher die Art von Happy Ending am Ende einer Folge Black Mirror.

Akupāra: Die kosmische Kröte

Um die Frage nach dem Sinn des Lebens gewissenhaft zu beantworten, führt natürlich kein Weg vorbei an Akupāra, der kosmischen Kröte. Das ist kein Erzfeind von Godzilla, sondern eine wirklich große Schildkröte aus dem Hinduismus, auf deren Rücken die (eher flache) Erde ruht. Wirklich groß also. Scheinbar sieht die Hindu Kosmologie übrigens noch eine Polsterschicht aus Elefanten vor, was für das folgende Gedankenexperiment aber vernachlässigt werden kann. Sinnsuchende fragen sich jetzt natürlich: Wenn die Erde auf dem Rücken der Riesenamphibie ruht, auf was steht dann die Schildkröte? Natürlich können Kröten nicht durch den Kosmos schweben, das wäre absurd. Wir wissen aber, dass der Schildkröten architektonisch optimal auf das Tragen von Himmelskörpern ausgelegt ist. Was wäre also besser geeignet, die kosmische Kröte zu tragen, als eine weitere, noch größere Schildkröte? Aber moment mal, worauf steht denn dann diese noch viel größere Schildkröte? Bei der eingehenden Reflexion dieser Fragestellung haben bereits viele DenkerInnen der Geschichte erkannt, dass hier wirklich viele Schildkröten aufeinander stehen müssen, um genau zu sein, unendlich viele Schildkröten. Daher rührt auch der in diesem Zusammenhang häufig verwendete Ausspruch “Turtles all the way down”, zu Deutsch “Schildkröten! Alle runter vom Weg!”.
MathematikerInnen und eingebildete ProgrammiererInnen sprechen hier auch von einem infiniten Regress, also eine unendliche Reihe von Vorgängen die sich selbst bedingen und sich dadurch immer wieder wiederholt. So eine Endlosschleife ist nicht nur bei der Suche nach dem Sinn des Lebens unerlässlich, er sorgt auch dafür, dass sich Computerprogramme und Gehirne gerne mal aufhängen. Ein infiniter Regress kann aber auch die Quelle infiniter Faszination sein, zum Beispiel, wenn man einen Spiegel vor einen anderen Spiegel hält. Im Fall der kosmischen Kröte ist der infinite Regress darin begründet, dass wir voraussetzen, dass alles, einschließlich der Erde, von etwas, z.B. einer Schildkröte, getragen werden muss und nicht einfach im Nichts schweben kann.

Des Schöpfers Schöpfer

Ein weniger anschauliches Beispiel für einen infiniten Regress ist aber eben auch die Frage nach dem Sinn des Lebens. Dafür müssen wir uns kurz einig werden, was wir eigentlich mit Sinn meinen. Der Duden sieht für das Wort “Sinn” zwar fünf Bedeutungen vor, diese lassen sich aber vereinfacht in zwei Richtungen aufteilen: Die erste Auslegung des Wortes meint den Verstand oder die Wahrnehmung für etwas. Hierunter fällt beispielsweise der Geschmackssinn oder auch der oft verkannte Sinn für witzige Geschenkverpackungen. Wenn du dich schon immer gefragt hast, ob das Leben einen Geschmackssinn hat oder Geschenke verpacken kann, haben wir jetzt aber leider aneinander vorbeigeredet. Für unsere Problemstellung kommt vielmehr die zweite Auslegung in Frage. Hier meinen wir mit “Sinn” den Gedanken oder Zweck, der hinter einer Sache steckt. Zum Beispiel sagen wir, ein unfassbar teures Gemälde, das nur rote Kringel enthält, ist sinnlos (WTF, Joan Miró?). Damit meinen wir, dass sich der spanische Künstler beim Malen des Bildes keine Gedanken über die Bedeutung und Funktion seines Werkes gemacht hat. Wir fragen hier also nach dem vorgesehenen Zweck des Lebens, dem Hintergedanken, der intendierten Funktion oder Bedeutung. Am Beispiel des vermeintlich sinnlosen Gemäldes wird aber klar, dass für einen Hintergedanken jemand (oder etwas) da sein muss, das diesen Gedanken vorab denkt. Wir stellen also die Prämisse auf, dass die Tatsache, dass wir in diesem Moment in der Lage sind, diesen Satz zu lesen, nicht nur das Ergebnis einer zufälligen Kausalkette ist, sondern dass es einen festgelegten Zweck gibt. An dieser Stelle helfen sich viele Ideologien damit aus, sich einfach eine sinnstiftende Entität, wie zum Beispiel einen Gott, auszudenken, der oder die sich analog zum spanischen Maler vorab einen Zweck für unser Leben überlegt hat. Die Funktion von Ideologien hat Yuval Noah Harari )in seinen sehr lesenswerten Büchern gut hergeleitet. Wir konzentrieren uns aber auf die Annahme, dass etwas oder jemand dem Leben einen festgelegten Sinn geben kann. Es wäre jetzt im Sinne jeder Ideologie, die Beweggründe ihrer sinnstiftenden Entitäten nicht weiter zu hinterfragen und die Frage nach dem Sinn des Lebens damit bequem zu beenden. Wenn wir annehmen, dass uns beispielsweise ein göttliches Schnabeltier unseren Sinn im Leben gibt, verlagern wir das Problem aber nur auf das Schnabeltier. Wie bei unserer kosmischen Kröte müssen wir doch wieder die Frage stellen, “Oh heiliges Schnabeltier, wer hat dir deinen seinen Sinn gegeben?” Bevor ich jetzt einen noch größeres und noch göttlicheres Schnabeltier ins Spiel bringe, halten wir einfach fest, dass uns auch die Frage nach dem Sinn des Lebens in einen infiniten Regress treibt, der ganz im Sinne seiner Unendlichkeit, in 100% der Fälle kein Ende findet.

Es ist, weil es ist

Natürlich können wir einfach an einer beliebigen Stelle der Regress-Schleife frustriert den Fuß auf den Boden stampfen und prusten “Es ist einfach so”. Das religiöse Equivalent wäre in dem Fall wahrscheinlich “Gott macht was er/sie macht”, das Arbeitsplatz-Äquivalent wäre “Wir machen das so, weil ich das sage”. Diese Argumentation fand ich schon als Kind im Lego-Laden hochgradig frustrierend, weil es sich hier um einen intellektuellen Kurzschluss handelt (damals habe ich es aber noch nicht so genannt). Die Regress-Schleife wird einfach durch einen kausalen Kreisbezug ersetzt (“Warum will ich das so? Weil ich das so will!”). Alternativ zum argumentativem Schlaganfall könnten wir unsere Ausgangsprämisse auch dahingehend modifizieren, dass sinnfreie Dinge anderen Dingen einen Sinn geben können und somit die Dauerschleife durchbrechen. Allerdings verletzen wir damit unsere Definition des Begriffs “Sinn” und begeben uns herab in die gewöhnliche Welt der “Kausalität”. Anstatt “ich bin, weil Gott das so will” postulieren wir jetzt einfach “ich bin, weil Stein”. Wer jetzt die Intentionen und Motive von Steinen/Molekülen/Atomen diskutieren will, kann das bitte gerne im Homöopathie-Subreddit tun.

Wie bin ich hier hergekommen? Die Frage nach dem Sinn des Lebens bewegt sich aber dennoch unangenehm nah an der Frage “Warum bin ich hier und was mache ich hier eigentlich?”. Allerdings ist diese Frage vor allem erstmal eine Frage der Kausalität, da sie sich doch recht zufriedenstellend mit “Weil du in der Bahn eingeschlafen bist!” beantworten lässt. Jener Frage ging auch Charles Darwin während eines ausgedehnten Urlaubs auf den Galápagos-Inseln nach. Weil es dort merkwürdige Finken gab, folgerte er, dass unser gesamtes Dasein auf einem langwierigem, zufallsgesteuertem Selektionsprozess basieren muss1. Und eben diesem Prozess (sog. Evolution) haben wir zu verdanken, dass wir, im Sinne von “wir Menschen”, hier sind und ein Gehirn haben, mit dem wir uns fragen können, warum wir hier sind. Vereinfacht gesagt, könnte man nun die These aufstellen, dass unser evolutionärer Sinn ist, als Spezies zu überleben, damit wir uns auch noch in 1000 Jahren fragen können, warum wir hier sind. Diese Art von Sinn gleicht aber eher einem Selbsterhaltungstrieb und wird die wenigsten Menschen davon abhalten, morgens zum dritten Mal nur noch fünf Minuten zu snoozen. Wäre die Selbsterhaltung der einzige Sinn im Leben, stünde außerdem die Frage im Raum, worin der Sinn liegt, ein System aufrechtzuerhalten, dessen einziger Sinn ist, sich selbst aufrechtzuerhalten. Klingt nach Dauerschleife.

Infinit am A#sch!

Wie können wir jetzt dem unendlichen Gehirnfrost des infiniten Regress entkommen? Alle bisherigen Versuche, den Sinn des Lebens zu ergründen, haben auf einer objektiven Betrachtung des Problems basiert. Wir haben versucht, einen allgemein anerkannten, wissenschaftlich beweisbaren Sinn des Lebens zu finden. Darin liegt aber das Problem. Die Wissenschaft versucht, allgemein gültige, objektive2 Antworten auf Fragestellungen zu finden. Sie fragt, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Jede Antwort bringt aber unweigerlich eine neue Frage hervor: Wenn Moleküle aus Atomen bestehen, woraus bestehen dann Atome? Beginnt man, auf die gleiche Art und Weise den Sinn eines Aspekts der Realität zu hinterfragen, zerbricht unweigerlich der Sinn von allem in eine unendliche Anreihung von Folgefragen. So entsteht immer ein infiniter Regress, der zwar mehr Fragen aber keinen Sinn hervorbringen kann. Okay, f#ck it. Konfrontiert mit der Unendlichkeit der Sinn-Folgefragen, kann man sich auch einfach dumm stellen, frei nach dem Motto “Wenn es unendlich viele Antworten gibt, kann ich auch die erste nehmen und aufhören zu fragen!” Das erfordert aber ein hohes Maß an epistemologischer Sturheit oder die Fähigkeit, Gedanken unbedacht zu denken. Diese beneidenswerte Leistung wurde in der freien Wildbahn bisher aber nur bei hochrangigen PolitikerInnen beobachtet. Die Frage nach dem Sinn des Lebens lässt sich, wenn überhaupt, nur subjektiv beantworten. Ein Leben ohne subjektiven Sinn verfällt dem Selbstzweck. Genau deswegen liebt der Mensch Weltanschauungen, die eine Story schaffen, welche unserem Leben einen subjektiven Sinn geben kann. Wie die schrullige Deutsch-Lehrerin aus der Oberstufe, geben sie uns eine Anleitung zur Interpretation und Beurteilung unseres Daseins.

I make me the whizzle, what it me gizzle

Nur weil Ideologien einen subjektiven Sinn liefern können, soll das hier definitiv kein Aufruf sein, in die Kirche zu gehen. Niemand hat gesagt, dass man zur subjektiven Sinnfindung an Gespenster glauben muss. Der Sinn ist eine Frage des Betrachters: Wir können dem Bild mit rotem Kringel einfach unseren eigenen Sinn geben und brauchen keinen Maler, der uns sagt, was er sich dabei gedacht hat. Schlauere Menschen, die sehr langatmige Bücher schreiben und z.B. Friedrich Nietzsche[ nietzsche link] heißen, nennen das Ganze dann übrigens Nihilismus. Bevor du jetzt “heroin vs meth” googlest, solltest du diesen Schluss am besten optimistisch betrachten und das Leben als eine geschenkte Leinwand sehen, die du so gestalten kannst, wie du es willst, nur ist die Leinwand halt vom Umtausch ausgeschlossen und das heißt natürlich trotzdem, dass das Leben technisch betrachtet sinnlos ist. Winke winke!



  1. Natürlich kann man hier auch noch einen Schritt weitergehen und fragen, woher die Erde kommt und die Milchstraße und so weiter.
  2. Genau genommen basiert nach Karl Popper der wissenschaftliche Prozess auf der Suche nach intersubjektiven Beobachtungen. Potato, Patata, ich hab es zumindest erwähnt.